Hikite - Die zurückgezogene Hand
Oder warum Karate Ka keine Deckung haben
Einiger meiner Leser wissen, dass ich einen langjährigen Hintergrund aus dem Bereich des Kickboxens habe. Daher erscheint es logisch, dass ich mich gerade mit dem Thema "fehlende Deckung" im Karate auseinander setze.
Um genau verstehen zu können, warum wir im Karate die Hand an den Körper (irgendwo zwischen Hüfte und Brust, je nach Stil und ausgeführter Technik) ziehen, anstatt sie wie ein Boxer in einer Schutzhaltung zu positionieren, müssen wir uns zuerst die Worte "Hiki" und "Te" ansehen, um von dort aus weitere Erkenntnisse ziehen zu können. Die eigentliche Bedeutung der Technikbezeichnungen ist oftmals sehr hilfreich, um die tatsächliche Bedeutung der Namensgebung zu erkennen.
Sehen wir uns das Kanji (Schriftzeichen) für Hiki an, so stellen wir fest, dass man es nicht nur als "zurückziehen" sondern auch einfach als "ziehen" übersetzen kann. Zusammen mit dem Kanji "Te" (Hand) entsteht nun nicht mehr nur der Eindruck des "Zurückziehens der Hand" sondern eben auch die Interpretation der "ziehenden Hand". Hieraus ergibt sich bereits die erste logische Schlussfolgerung, nämlich dass die Hand nicht einfach nur zurückgezogen wird, um sie beispielsweise als Gegen- oder Ausholbewegung zu. nutzen, sondern um "etwas" zu ziehen!
Damit erfüllt das Zurückziehen der Hand einen bestimmten Zweck, der oftmals auch als "Torite" bezeichnet wird. Sie greift den Gegner, oder einen Teil des Gegners, wie z.B. Einen Arm, ein Bein oder schlicht ein Kleidungsstück, um den Gegner während der Ausführung einer eigenen Technik an sich heran zu ziehen oder zu kontrollieren. Der Torite Aspekt des Karate hat aber noch eine weitere Aufgabe für das Hikite parat. Oftmals handelt es sich bei der zurückgezogenen Hand auch um einen "versteckten" Hebel, einen Wurf oder sogar eine Würgetechnik (siehe Foto Gedan Barai & Shuto Uke).
Doch bevor ich noch weiter in die tiefere Materie der Techniken eintauchen werde, möchte ich zuerst definieren was Hikite alles sein kann, und ebenfalls die Möglichkeiten des Hikite aufzeigen.
Wie bereits eingangs erwähnt, kann das "normale" Hikite stilspezifisch zwischen der Hüfte (eher Shorin Ryu stämmige Stile) und der Brust (Goju Ryu / Naha Te stämmige Stile) ausgeführt werden. In beiden Fällen wird die Hand, anders als im Boxen, nicht als Deckung im eigentlichen Sinne gehoben, auch wenn die höhere Position der Hand zusätzlichen Schutz für die Rippen bieten kann.
Neben eben diesem "normalen", also Kihon mäßigen Hikite, kann die Hand auch sehr wohl zu anderen Körperpartien gezogen werden. Dies ist zum Beispiel bei einem klassischen Shuto Uke der Fall, bei dem die hintere Hand vor die Brust gezogen wird, oder, wie im Fall der Kata Pinan Shodan / Heian Shodan, wo die Hand in der Eingangssequenz zur eigenen Schulter gezogen wird. Dass es sich auch bei diesen Ausführungen nicht um eine Art Deckung handeln kann dürfte weitgehend einleuchtend sein.
Aber warum verzichten wir im Karate so offensichtlich auf jeden Versuch eine vernünftige Deckung einzunehmen? Jeder der einmal mit einem Boxer gearbeitet hat stellt sehr schnell fest wie wichtig das heben der Hände vor das eigene Gesicht ist, um. Nicht bereits nach Sekunden mit einer blutigen Nase zu enden. Sicher einer der Gründe warum wir Karate Ka nur wenig Respekt von erfahrenen Boxern ernten. Doch wie verhält es sich mit einer Deckung wenn wir die gepolsterten Handschuhe entfernen? Wieviel Schutz bieten unsere Hände dann noch in dieser Position? Die Antwort ist simpel und ebenso ernüchternd: KEINEN!!! Denn die ungeschützten Hände werden nun selbst zum Ziel, und wer schon mal einen Schlag auf den Handrücken erhalten hat, kann dies schmerzlich bestätigen. Zudem können die eigenen Knöchel bei einem Schlag in die "Deckung" nun enormen Schaden im Gesicht des Verteidigers hinterlassen, was diese Art der Deckung in der realen Selbstverteidigung eher gefährlich macht.
Also kann Hikite mehr als nur das Ausholen zum Schlag oder die Gegenbewegung zur eigentlichen Technik sein, auch wenn sie offensichtlich keinen direkten Schutz vor Angriffen bietet. Neben dem Ziehen (heranziehen) des Gegners, der Kontrolle des Gegners durch greifen oder hebeln, dem Werfen oder Würgen ist die typische Hikite Bewegung auch ein Angriff in eine andere Richtung. Wir kennen Newtons Gesetzt, dass "jede Aktion eine gleich große Reaktion" beinhaltet, und so scheint es klar, dass z.B. das Ziehen der Hand zur Hüfte auch gleichzeitig ein Ellbogenstoß zu einem hinter mir stehenden Gegner sein kann. Dieses Beispiel soll hier nur repräsentativ für viele andere Hikite Techniken genannt sein.
Doch Hikite kann uns auch einen entscheidenden Hinweis auf die Anwendung der Kata geben. Sehen wir uns die Kata an, so stellen wir schnell fest, dass in den wenigsten Kata ein Tsuki (Fauststoß) zum Kopf des Gegners ausgeführt wird. Dies kann zum einen darauf hindeuten, dass man dies aus gesellschaftlichen Gründen im alten Okinawa einfach nicht tat (man bedenke die evtl. gegebenen höfischen Verhaltensregeln am Hof von Shuri), oder könnte zum anderen auf die Gefahr der Verletzung der eigenen Hand hinweisen.
Im Kontext zum Thema Hikite sollten wir jedoch nicht außer Acht lassen, dass bei einem korrekt ausgeführten Hikite der Kopf des Gegners nicht mehr oben ist! Durch das ziehen, ganz gleich ob an Gliedmaßen, Kleidung oder Hals / Kopf befindet der Kopf des Gegners nicht mehr auf Jodan Level, was einen Schlag auf diese Ebene obsolet machen würde.
Besonders spannend ist das Hikite sicher auch im Bereich des Kobudo, hier vor allem bei Waffen wie dem Sai. Das Hikite wird hier ganz deutlich zu einem Heranziehen des Gegners. Setzt man die seitlichen Zinken des Sai (Yoko oder Yoku genannt) richtig ein, ist dies meist eine extrem schmerzhafte Erfahrung für den Gegner, da die einwirkende Kraft durch kleine Fläche des stählernen Sai noch verstärkt wird. Gleichzeitig kann das Hikite in dieser Position zusätzlich zu einem Gelenkhebel genutzt werden.
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Basty (Mittwoch, 29 Juni 2016 13:52)
Hey Andree,
echt ein schöner Artikel. Teilweise wundert es mich, dass dieses Thema immernoch nicht bei allen angekommen ist. Natürlich muss Hikite etwas bedeuten, sonst hätte dieses Prinzip die Jahrtausende nicht überlebt und wär wegrationalisiert worden.
Das wir von Boxern oder Kickboxern deswegen belächelt werden, finde ich okay. Teilweise kann ich nur zurücklächeln :-P
Wenn man sich die Entwicklungsgeschichte des Boxen oder Kickboxen anschaut, stellt man schnell fest, dass diese Formen des Kämpfens als Wettkampfsport konzipiert sind. Daraus ergeben sich natürlich ganz andere Rahmenbedingungen als z.B. im Karate, welches als Überlebenskampf konzipiert war/ist.
Im Boxen steht man sich Auge um Auge gegenüber. Beide Parteien sind auf Kampf eingestelt. So ergibt sich die logische Konsequenz einer offensichtlichen Deckung. Übringens war Boxen früher auch ohne Handschuhe (Bare-Nuckle Boxen hieß es, glaube ich). Karate wiederrum ist ganz anders gedacht. Karateka wollen nicht kämpfen. Daher nutzen sie ihre Kunst nur im Notfall. Der Notfall tritt ein, ohne das der Karateka direkt im Bilde ist. Der Überraschungsmoment wird von einer natürlichen Abwehrbewegung des Körpers eingeleitet, welche anschließend in eine Karatetechnik mit Kontrolle (Hikite) mündet.
Ich hoffe, man konnte meinen Gedanken folgen :-D
Nochmals Danke für den geilen Artikel.
LG Basty